Geschichte der Woche

“Ein Wasserträger in Indien hatte zwei gleich große Töpfe. Sie hingen an beiden Enden einer langen Stange, die er über den Nacken legte. Einer der Töpfe hatte einen Riss, der andere dagegen war völlig intakt. Der heile Topf enthielt am Ende des langen Weges vom Fluss zum Haus des Herrn immer noch die gesamte Ration Wasser. Der Topf mit dem Sprung dagegen kam immer nur halb voll an. Zwei Jahre lang brachte der Wasserträger seinem Herren nur anderthalb Töpfe Wasser.


Der heile Topf war stolz auf seine Leistung, denn er erfüllte genau den Zweck, zu dem er gemacht worden war. Der beschädigte Topf jedoch schämte sich für seine Unvollkommenheit und fühlte sich elend, weil er nur die Hälfte von dem brachte, wofür er gedacht war. Nach dem zweiten Jahr, in dem er sich nun schon als bitterer Versager empfand, sprach der unglückliche Topf eines Tages den Wasserträger am Fluss an: “Ich schäme mich und möchte mich bei dir entschuldigen”. “Warum?”, fragte der Wasserträger. “Wofür schämst du dich denn?”. “Ich habe die vergangenen beiden Jahre immer nur die Hälfte meines Inhalts abliefern können, weil auf dem Weg vom Fluss zum Haus deines Herrn immer die Hälfte des Wassers aus mir heraustropft. Wegen dieses Mangels musst du viel mehr arbeiten und bekommst noch nicht mal den vollen Gegenwert für deine Mühe”, sagte der Topf.

Dem Wasserträger tat der rissige Topf leid, und so entgegnete er: “Wenn wir gleich zum Haus des Herrn zurückgehen, möchte ich, dass du einmal auf die wunderschönen Blumen am Wegrand achtest.” Und tatsächlich, als sie den Hügel hinaufgingen, bemerkte der Topf die wunderschönen Blumen am Wegesrand, die bunt in der Sonne leuchten, und das heiterte ihn wieder ein wenig auf. Aber am Ende des Pfades fühlte er sich immer noch schlecht, weil wieder die Hälfte seines Inhaltes verloren gegangen war, und deshalb entschuldigte er sich abermals bei dem Wasserträger für sein Versagen.

Der Träger sagte zu dem Topf: “Ist dir aufgefallen, dass nur an deiner Seite des Weges Blumen wachsen, auf der anderen Seite, wo der heile Topf hängt, aber nicht? Das liegt daran, dass ich immer um deinen Mangel gewusst und ihn für meine Zwecke genutzt habe. Ich habe nämlich an deiner Seite des Weges Blumen gesät, und du hast sie jeden Tag, wenn wir den Weg zurück vom Fluss zurück zum Haus des Herrn gegangen sind, gegossen. Schon seit zwei Jahren kann ich jetzt wunderschöne Blumen pflücken, um den Tisch meines Herrn damit zu schmücken. Wenn du nicht genau so wärst, wie du bist, wäre sein Haus nicht so schön geschmückt.”


14 Responses to Geschichte der Woche

  1. Felix sagt:

    Oh mein Gott, danke!
    Das passt.

  2. Jens Blecker sagt:

    Es ist gar nicht so einfach kurze Geschichten zu finden, die einen tieferen Sinn haben. Wenn jemand über welche stolpert, freue ich mich über eine Zusendung. Auf Wunsch wird der Zusender namentlich unter dem Artikel genannt. Mir bereiten solche Geschichten selbst große Freude und ich hoffe auch den Lesern.

  3. superomega sagt:

    Danke Jens, für die schöne Geschichte.
    Einen schönen 3. Advent wünsche ich der Runde.

  4. dirk sagt:

    Hmm der Sinn erschließt sich mir nur schwer, ich versuche einmal eine Interpretation: Wasserträger zu Herr, Wasserträger = Sklave

    Geht es hier darum, dass ein guter und glücklicher Sklave sich nicht alleine damit zufrieden geben soll, dass der Herr ihm ein klägliches Auskommen für seine tägliche Knechtschaft beschert, sonderm ihm auch noch als Leistung über das normale Maß hinaus nach der Maloche die Bude verschönern
    soll?
    Meinem Abteilungsleiter der Liebe würde das sicher auch gefallen.
    Und die armen Blumen! Sie werden nur gesäht um sie später zu nichts anderem als einem rein dekorativen Zweck abzuschneiden (ein versteckter Hinweis auf das was viele Verschwörungstheorien nennen, andere den versteckten Paln der Eliten?), vielleicht damit sich der Sklave bei seinem Herren besser stellt um gelegentlich eine Extraration Brot oder weniger Schläge
    zu bekommen?
    Insgesamt eine traurige Geschichte. Einzig der Herr kann sich im Licht derer sonnen, die für ihn rackern. Der Sklave, der Wassertopf und die Blumen sie alle existieren nur um den Herrn seinen Luxus zu
    ermöglichen.
    Zum Glück leben wir nicht in Indien, wo man das Kastensystem zwar offiziel abgeschafft hat, inoffoziel jedoch nicht kritisiert. Oder sind die vielen Sklaven hier zu Lande doch genauso dumm wie dieser Wasserträger?
    Anscheinend nimt ja jeder sein Schiksal für gegeben und niemand erhebt sich.

  5. Nver2Much sagt:

    Dirk wir erheben uns.

    Das Kastensystem ist nicht nur in Indien, deshalb müssen wir geduldig sein mit den Auswirkungen des Erhebens.

    Mir persönlich macht es ein gutes Gefühl wie weit wir schon im Menschsein voran geschritten sind.

    ich werde nicht mehr gesteinigt wegen meiner Worte.

    Ich wwwünsche Euch allen einen schönen Dritten Advent, und die Zeitungen verbrennen nicht vergessen.

  6. Jens Blecker sagt:

    Dirk, wer nur Ausschau nach schlechtem hält, wird auch nur schlechtes entdecken. Meine Botschaft aus der Geschichte ist eine Andere, aber natürlich bietet sie jedem eigene Interpretationsmöglichkeiten.

    Carpe diem <-- Mal googlen 😉

  7. Magdalene1961 sagt:

    Hallo Dirk,

    ich interpretiere den Sinn wie folgt:

    Auch etwas Unvollkommenes erfüllt einen Zweck und hat seine Daseinsberechtigung.

    Grüße Magda

  8. Was sagt uns diese schöne Geschichte:
    … auch ein Mangel kann einen Nutzen haben, daher sollte ein Mangel nicht immer gleich oberflächlich als Fehler angesehen werden.

  9. Introvertiert sagt:

    Danke für diese ermutigende Geschichte. Sie erinnert mich daran, dass die Würde eines Menschen nicht abhängig sein muss von dem was ein Mensch leisten kann. Immer mehr rissige Menschen (rissig nach unseren gesellschaftlichen Maßstäben) unter uns werden abgehängt und ausgetauscht. Am Wegrand, den Blumen zieren könnten, fristen die Ausrangierten und Rostenden dann ihr Dasein.

    Und vermutlich werden in den nächsten Wochen wieder etliche Tragödien in den Schlagzeilen zu finden sein, wo abgehängte und ausrangierte Menschen die sich ihrer Würde beraubt sehen, sich und andere dafür richten.

    Mit dem Branding labil und psychisch gestört treten sie dann von der Bühne und unsere Gesellschaft verdrängt weiter ihren krankhaften und krankmachenden Weg, auf dem die Gewinner geheiligt und die Verlierer verteufelt sind.

    Wir mögen aufgeklärt sein und klug, fähig rational zu denken und zu handeln, aber an Weisheit und Umsichtigkeit mangelt es uns allen.

  10. 0815 sagt:

    Wenn alle perfekt wären, hätten auch alle mehr davon. Leider ist es so dass die natürliche Selektion ausgeschaltet ist und dementsprechend auch Makel verherrlicht werden können ;)= Zum Beispiel: Wieso aufregen das die Politiker im Grunde eine Null-Nummer sind? Hat jeder seine perfekte Bestimmung?
    War das jetzt von mir ironisch? hmmm.. Somit ist auch mein com. interpretierungsfähig o_O

  11. stupido sagt:

    Mein lieber „introvertiert“ (potentieller amokläufer??^)

    Scherz beiseite….

    >>Am Wegrand, den Blumen zieren könnten, fristen die Ausrangierten und Rostenden dann ihr Dasein. <<

    Ich hab in den letzten..hm…14, 15 Monaten mehr sog. vermeindlich rostende aber tatsächlich ausrangierte als "normale" leistungsfähige (was leisten die überhaupt genau?) kennen gelernt.

    Und ich bin ganz ehrlich der Überzeugung – wären die rostenden, ausrangierten die Mehrheit – wir wären nah am Paradies….

  12. Jens Blecker sagt:

    Richtig 😉

  13. Rudy sagt:

    bei „Interpretation“ vermuten wir immer ein bewußtes Nachdenken über etwas. Wenn man aber ohne bewußtes Denken zu einer Betrachtung findet, dann meint „Vollkommenheit“, „Zweck“ oder „Nutzen“ bereits die Interpretation eines Betrachters.

    Das gilt mitunter auch für die Benennungen als „Herr“ oder „Knecht“. Auch der Herr ist oft vielmehr Knecht, als der Knecht, den wir so bezeichnen, nur sagt er es nicht.

    Das schöne an der Geschichte ist es, verblüffend erfahren zu müssen, wie wir uns irren können, obwohl wir doch so unglaublich klug sind.

    Schöne Geschichte!

    Viele Grüße
    rudy

  14. Irmonen sagt:

    eine sehr schöne Geschichte, gefällt!!!!

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