Geschichte der Woche

Der alte Mann


Einsam saß er dort am alten Steg, den er selbst vor Ewigkeiten mit seinen eigenen Händen gebaut hatte. Wenn er auf die Wasseroberfläche sah, die sein Spiegelbild verzerrte, konnte er erraten wie er jetzt aussah und wie er einmal ausgesehen haben musste, als er noch jung war. Der Morgenglanz all dieser Träume war längst untergegangen im Taumel der Zeit und der Jahre, die ins Land gezogen waren und mit sich Veränderungen gebracht hatten.

Vieles war nicht beim Alten geblieben. Doch am meisten bemerkte der alte Mann die Veränderungen an sich selbst. Sein Gesicht war durchfurcht von tiefen Sorgenfalten, es gelang ihm nicht mehr, die Finger ruhigzuhalten, sein Gang war gebückt und er erkannte, dass seine Tage gezählt waren.

Vieles war anders geworden, doch ihm war es gleichgültig. Lebte er doch in einer Welt, die niemand erreichen, die niemand ihm wegnehmen konnte – in der Vergangenheit. Dort war er noch immer der junge, kräftige Mann, der sich auf all das freute, was ihm die Zukunft bringen würde und der hoffte und sich bereitwillig von Dingen blenden ließ, die ihm bedeutsam erschienen.

Er hatte Fehler gemacht, sicherlich, er hatte Menschen verletzt durch sein Verhalten, durch seine Liebe. Er wollte Brücken errichten zwischen den Menschen, doch alle Brücken waren eingestürzt und er allein war es, der auf den Trümmern weiterlebte. Einmal hatte ihn ein Kind gefragt: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Und er hatte keine Antwort darauf gewusst. Jetzt war es Abend geworden in seinem Leben, bevor er es bemerkt hatte und darauf würde die Nacht folgen.

Er wollte früher immer reich sein und die Annehmlichkeiten des Lebens aus vollen Zügen geniessen – was war auch schon dabei? Er hatte sich selbst der Arbeit gewidmet: sie war seine Geliebte, seine Wegbegleiterin, seine Totengräberin. Doch das hatte er zu spät erkannt – viel zu spät. Der alte Mann wollte sich nicht mehr wandeln, denn er genoss es, so zu bleiben, wie er war und in den Erinnerungen an erfreulichere Tage zu verharren. Viele Freunde hatte er damals gehabt. Viele waren bereits tot und nur die Gedanken an sie konnten sie noch weiterexistieren lassen, bis sie schließlich doch in Vergessenheit geraten würden.

Das war der Lauf der Zeit. Der alte Mann betrachtete seine Hände und sah die Furchen darin, als er sich aufrichtete. Die Schmerzen waren nicht so unerträglich, wie er es befürchtet hatte, als er starb. In dieser Nacht sah er zum letzten Mal die Sterne, wie sie sich im Meer spiegelten und wusste, dass alles weiterfliessen wird. Dass alles einen Sinn ergibt. Und er war nicht mehr traurig über das Schicksal. Denn er war reich in seinem Herzen.

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